Historiker appellieren: Krisen anders denken - Fallgeschichten aus drei Jahrtausenden


Was geschieht, wenn sich Gesellschaften bedroht fühlen? Wenn die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, verändern sich Machtkonstellationen und Normen. Ein Buch untersucht Fallgeschichten aus drei Jahrtausenden.
Von Christoph Arens (KNA)

Finanzkrise, Flüchtlingsströme, Hochwasser und Dürren. Corona-Pandemie, bedrohte US-Demokratie, Islamistischer Terrorismus und die Rückkehr des Krieges in Europa: Das 21. Jahrhundert erscheint bisweilen als Abfolge immer neuer Krisen. Gewissheiten und Fortschrittshoffnungen sind plötzlich fraglich geworden. Das Virus setzte über Jahre hinweg Normen und Alltagsroutinen außer Kraft. „Die Welt ist aus den Fugen geraten“, bilanzierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Doch was geschieht, wenn soziale Ordnungen plötzlich nicht mehr zu funktionieren scheinen?

Seit 2011 untersuchen Wissenschaftler der Universität Tübingen im Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“, wie Menschen und Gesellschaften handeln, die unter Druck geraten sind. Jetzt haben die Tübinger Historiker Ewald Frie und Mischa Meier einen spannenden Sammelband mit Fallgeschichten aus 3.000 Jahren vorgelegt. Den Begriff „Krise“ lehnen die Autorinnen und Autoren als zu unscharf ab. „Lasst uns über Bedrohungen reden“, schreiben Frie und Meier zu Beginn. Bedrohungen könnten Gesellschaften verändern. Aus ihnen erwüchsen ungeahnte Chancen und Risiken. Ein Blick auf bedrohte Ordnungen in der Vergangenheit könne helfen, Neues über die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und uns selbst zu lernen.

Bedrohungen verleihen Macht: Wer die Dynamik der Krise beherrscht, kann selbst weit entfernt scheinende Ziele erreichen: Solidarität herstellen, neue Gesetze durchsetzen - oder Grundrechte außer Kraft setzen, Bevölkerungsgruppen ausgrenzen und Gewalt rechtfertigen. Wir sind in den Geschichten vielen Bedrohungsunternehmern und Bedrohungsprofiteuren begegnet: von den kleinen Geschäftemachern der justinianischen Pest bis zu den Rechtsradikalen nach der Kölner Silvesternacht, heißt es.

Die Versuchsanordnung des Buches ist klar: Das Corona-Virus zum Beispiel traf auf ganz unterschiedliche Gesellschaften, die auch sehr verschieden reagierten. Entscheidungsprozeduren waren in China anders als in den USA oder Deutschland. Im Erzgebirge gab es ein anderes Bedrohungsgefühl als in Holstein. Republikanische US-Gouverneure trafen andere Entscheidungen als demokratische Gouverneure. Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler: Jede soziale Gruppe, jede Gesellschaft verfügt über eigene Mechanismen, Ordnung herzustellen.

Das bedeutet aber auch, dass jede Gesellschaft in spezifischer Weise verwundbar ist und ein anderes Verständnis davon hat, was sie bedrohen kann. Eine antike Gesellschaft, in der der Tod allgegenwärtig war, ging gelassener mit einer Seuche um als Deutschland mit der unerwarteten Corona-Pandemie. Aus solch unterschiedlichen Verhaltensweisen versuchen die Wissenschaftler, Muster zu destillieren, die sich durch die Geschichte ziehen. Wir gewinnen dadurch keine sicheren Prognosen für die Zukunft, immerhin aber ein vertieftes Verständnis für menschliches Handeln in Extremsituationen, heißt es im Buch.

So hat beispielsweise Religion sehr unterschiedliche Funktionen - sie kann Gesellschaften unter Stress einen oder auch spalten: Als im Jahr 626 Konstantinopel von den Persern belagert wurde und Kaiser und Heer weit weg waren, ließ die Kirche so viele Messen lesen und Prozessionen durch die Stadt führen, dass die Bürger fest an den Beistand Gottes glaubten und die Feinde in die Flucht schlugen. Doch zur Zeit der Reformation trugen religiöse Praktiken dazu bei, Bedrohungsgefühle zu eskalieren. Beispielsweise Pamphilus Gengenbach mit seiner Satire „Jämmerliche Klage über die Totenfresser“, die Papst und katholischen Klerus scharf beschuldigten, sich an Totenmessen und Gedenkstiftungen zu bereichern und die Lebenden verarmen zu lassen.

Für die Autoren ist klar: Auch wenn Bedrohungen eine überwältigende Dynamik entfalten, sind sie keine schicksalhaften Naturgewalten. Es lohne sich, Szenarien kritisch zu prüfen und zu fragen, wer sie formuliere und wer davon profitiere. So zeige sich im Brexit-geplagten Großbritannien, dass ein Bedrohungsalarm erst an Einfluss gewinne, wenn alle Themen auf diese eine Bedrohung verengt würden und wenn sich Menschen kollektiv von ihren Bedrohungsängsten leiten ließen.

 

News der Katholischen Nachrichten-Agentur

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