Was der Krieg mit den Christen im Heiligen Land macht. Ist der Zauber Jerusalems endgültig zerbrochen?
Der fünfte große Krieg seit der Staatsgründung Israels 1948. Der Konflikt: seit über 100 Jahren ungelöst. Was macht er mit den Volksgruppen, was mit den Christen? Ist der Traum vom Heiligen Land endgültig zerstoben?
Von Johannes Schidelko (KNA)
Der Gaza-Krieg, der mit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober begann, wird nicht nur militärisch auf dem Schlachtfeld geführt. Er hat die Menschen und das ganze soziale Gefüge erschüttert und tiefes Misstrauen und Skepsis unter den Bevölkerungsgruppen geschürt. „Das einvernehmliche Nebeneinander, der Traum vom Heiligen Land, in dem sich Christen, Juden, Muslime, Drusen, Atheisten, Bahai und Tscherkessen wohlfühlen, sei zerbrochen“, sagt Nikodemus Schnabel, Abt des Jerusalemer Benediktinerklosters Dormitio. Vom Zauber Jerusalems, wo die Pilger der drei abrahamitischen Religionen zusammenkommen, sei sehr vieles kaputtgegangen.
Beim internationalen Blick auf Fronten und Lagerbildungen um die beiden Kriegsparteien gerate in Vergessenheit, dass hier Menschen sterben, betont der Mönch. Unter den rund 20.000 Todesopfern des Krieges sind bislang 28 Christen, allesamt Zivilisten. Für Christen wie auch für Juden und Muslime sei jeder Mensch als Abbild Gottes geschaffen ganz unabhängig vom Selbstverteidigungsrecht. Jedes getötete Menschenleben ist daher eines zu viel , so Schnabel. Und jeder weitere Tag Krieg sei eine weitere Herausforderung auch für die Christen.
Aber was tun die Kirchen in dieser Lage für ihre Gläubigen und für die Gesellschaft?
Sie haben die Botschaft der Bergpredigt- die mit der Forderung nach Feindesliebe derzeit nicht überall leicht zu vermitteln ist, die die Kirchenoberen aber mit Nachdruck bekräftigen. In Gaza haben die meisten der rund 1.000 Christen Zuflucht auf dem Gelände ihrer Kirchen gesucht- bis die orthodoxe Kirche bei einer Explosion schwer beschädigt wurde. Im katholischen Pfarrzentrum „Zur Heiligen Familie“ wurden zuletzt zwei Frauen von israelischen Scharfschützen erschossen. Die Pfarrei, zu der auch ein Pflegeheim der Mutter-Teresa Schwestern gehört, bietet den Gläubigen humanitäre und spirituelle Hilfe, auch wenn ihre materiellen Ressourcen infolge der Blockade ständig schrumpfen.
Eine besondere Herausforderung ist die Lage für Bethlehem im Westjordanland, das in diesen Weihnachtstagen wieder in den internationalen Blick rückt. Wie kann man die Geburt des Friedensfürsten mitten im Krieg feiern, fragen sich die Christen. Gerade sie sind dort in einer prekären Situation: Sie können weder zur Arbeit ins abgesperrte Jerusalem fahren, noch haben sie Einkommen aus dem Pilgertourismus, da die ausländischen Gäste komplett ausbleiben. Um den anhaltenden Exodus der Christen zu stoppen, führen die Franziskaner hier eine große Schule und bieten günstigen Wohnraum für bedürftige christliche Familien. Andere kirchliche Organisationen unterhalten Kliniken, etwa das Bethlehemer Caritas Baby Hospital. Die Benediktiner der Dormitio und des dazugehörenden Klosters Tabgha am See Genezareth engagieren sich sozialkaritativ und geistlich. Zu Kriegsbeginn hat ihre Jugend- und Behinderten-Begegnungsstätte Beth Noah in Tabgha fünf Wochen lang jüdische Behinderte und ihre Betreuer aus dem Süden aufgenommen. Unsere Kirchen bleiben geöffnet, wir feiern weiter unsere Messen und Gebetszeiten, betont Pater Nikodemus. Die Cafeteria ist geöffnet. Wir sind für die Menschen da, die zu uns kommen, so der Abt. Wir haben uns nicht aus Angst verriegelt, sondern versuchen, in diesem Ozean des Leidens und des Misstrauens durch unsere Präsenz eine Insel der Hoffnung und des Trostes zu sein. Auch diesmal führen sie ihre Weihnachtsaktion durch und bringen in der Heiligen Nacht eine Schriftrolle mit zigtausend Namen und ebenso vielen Fürbitten nach Bethlehem.
Zum Einsatz für die Christen im Heiligen Land gehört auch, dass die Dormitio keinen ihrer Angestellten entlassen hat- obwohl kaum Besucher und Gäste kommen und die Abtei kaum Einnahmen verbucht. Es ist für uns eine soziale Verantwortung- und eine sehr prekäre Situation. Wir müssen auf unsere Rücklagen zurückgreifen. Aber es lasse ahnen, wie es jetzt den christlichen Familien in Bethlehem und auf der Westbank gehen muss.
Dabei sind die Kirchen des Heiligen Landes in diesem Krieg nochmals enger zusammengerückt, haben mehrmals zu ökumenischen Friedensgebeten eingeladen. Und ausgerechnet in der Kriegslage kam es zu zwei ökumenischen Sensationen, die bislang kaum Beachtung fanden. Am Reformationstag haben der lutherische und der anglikanische Bischof von Jerusalem zusammen Abendmahl in der Erlöserkirche gefeiert- wie deren Propst Joachim Lenz bestätigte- und so eine sogenannte Abendmahlgemeinschaft gebildet. Zudem nahm der griechisch-orthodoxe Patriarch Theophilos III. erstmals an einem Gottesdienst in der Erlöserkirche teil.
Es fehle nicht an Solidarität der Weltkirche mit den Christen im Heiligen Land, betonen Kirchenobere. Auch aus Deutschland, das aufgrund seiner Staatsräson gegenüber Israel und eines gefährlichen Antisemitismus einen besonderen Blick auf die Lage hat, wurden die Christen im Heiligen Land nicht vergessen. Der neuernannte Paderborner Erzbischof Udo Bentz äußerte sich zur Tötung der beiden Frauen in der Pfarrei von Gaza. Abt Nikodemus kommentiert, er freue sich über die klaren Worten der Solidarität. Darauf haben die Christen im Heiligen Land seit Wochen gewartet.
Für die Weihnachtsfeiern haben sich die Kirchen im Heiligen Land auf einen Kompromiss geeinigt: Weder wurde das Fest komplett abgesagt, wie manche forderten, noch feiert man „as usual“ . Es gibt Gottesdienste, aber kein Straßenweihnachten mit hellem Christbaum und lauter Musik. „Ich glaube, es wird ein sehr authentisches Weihnachten“, so der Benediktiner. Denn in dieser Zeit, wo die Waffen sprechen und die Mächtigen der Welt über geopolitische Ziele streiten, gedenken wir eines wehrlosen Kindes; des Friedensfürsten, der vor 2.000 Jahren unter prekären Umständen in einer Krippe geboren wurde.
Wer mehr erfahren will, der ist auf der Seite der Abtei Dormitio richtig: https://www.dormitio.net/
Studie: 17 Millionen Kinder leiden Hunger ab dem ersten Atemzug
KNA
Einer neuen Studie zufolge leiden weltweit immer mehr Kinder ab ihrer Geburt an Hunger. Mehr als 17 Millionen Kinder werden dieses Jahr in eine Situation hineingeboren, in der sie oder ihre stillenden Mütter nicht genug zu essen haben, ergab eine Analyse der Kinderrechtsorganisation Save the Children. „Das sind durchschnittlich 33 Kinder pro Minute - so viele wie in einer groÿen Schulklasse“, erläuterte Florian Westphal, Geschäftsführer von Save the Children Deutschland in Berlin. Die Zahl der Neugeborenen, die von Nahrungsmangel betroffen seien, sei binnen zehn Jahren um mehr als ein Fünftel gestiegen. Zwischen 2001 und 2013 sei die Zahl der Kinder, die von Geburt an mit Hunger konfrontiert gewesen seien, zwar dank eines entschlossenen Handelns der internationalen Gemeinschaft um ein Fünftel gesunken - von 21,5 Millionen auf 14,4 Millionen Kinder. Danach blieb die Zahl relativ stabil, stieg aber 2019 sprunghaft an und liegt inzwischen 22 Prozent höher als vor zehn Jahren, so die Organisation. Damit sei das Erreichen des UN-Nachhaltigkeitsziels, die Welt bis 2030 von Hunger zu befreien, in sehr weite Ferne gerückt. hieß es anlässlich des Internationalen Tages der Kinderrechte (20. November). Hunger sei jedoch keine Naturkatastrophe, sondern menschengemacht. Die Kinderrechtsorganisation fordert mehr Maßnahmen im Kampf gegen Hunger. Ursachen seien vor allem wirtschaftliche Instabilität, Konflikte und Klimaschocks. Auf Afrika und Asien entfallen demnach 95 Prozent aller weltweiten Geburten im Kontext von Hunger. Betroffen sei insbesondere die Demokratische Republik Kongo. Dort werden in diesem Jahr insgesamt 1,5 Millionen Babys in den Hunger hineingeboren, hieß es. Afghanistan führe die Liste der asiatischen Staaten an. Dort seien 2023 insgesamt 440.000 Kinder betroffen. In den ausgewerteten Daten sind die Auswirkungen des aktuellen Nahost-Konflikts noch nicht berücksichtigt, wie es weiter hieß. Im Gazastreifen herrsche jedoch eine dramatische Unterversorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser. Save the Children mahnt: Vor dem Hintergrund, dass dort täglich im Durchschnitt 180 Babys geboren werden, sind Tausende schwangere Frauen und Neugeborene allein in den kommenden Wochen einem erhöhten Risiko von Komplikationen ausgesetzt.
Fünf Fragen und Antworten vor der Weltklimakonferenz in Dubai - Es steht viel auf dem Spiel
Von Joachim Heinz (KNA)
Am 30. November beginnt in Dubai die Weltklimakonferenz. Bis zum 12. Dezember wollen Wissenschaftler, Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft über den Kampf gegen den Klimawandel und den Stand bei der Umsetzung des Klimaabkommens von Paris beraten. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) beantwortet einige wichtige Fragen rund um das Treffen in den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Worum geht es beim Klimaabkommen von Paris?
Das am 12. Dezember 2015 abgeschlossene Klimaabkommen sieht vor, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur im Vergleich zum vorindustriellen Niveau auf unter 2 Grad, nach Möglichkeit auf unter 1,5 Grad, zu begrenzen. Dies soll durch Verminderungen beim Ausstoß von Kohlendioxid und anderen klimaschädlichen Gasen wie Methan oder Lachgas geschehen.
Wo steht die Welt aktuell beim Klimaschutz?
Laut dem aktuellen Emissions Gap Report 2023 des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) steuert die Welt trotz aller Zusagen von Politik und Wirtschaft auf eine Erwärmung um fast 3 Grad zu. Die Treibhausgas-Emissionen stiegen demnach von 2021 bis 2022 weltweit um 1,2 Prozent auf eine neue Rekordmenge. Den gleichen Anstieg verzeichneten die 20 größten Industriestaaten, die das höchste Einsparpotenzial besitzen - und in den vergangenen rund 200 Jahren am meisten CO2 in die Atmosphäre geblasen haben. Experten des EU-Klimawandeldienstes Copernicus Climate Change Service befürchten, dass 2023 global betrachtet als wärmstes Jahr der vergangenen 125.000 Jahre in die Geschichte eingehen könnte. Die Folgen des Klimawandels sind jetzt schon spürbar - und zwar überall auf der Welt: Rekordhitze in Brasilien, Waldbrände in Kanada oder die Gletscherschmelze in den Alpen. Extrem hohe Temperaturen, Dürre, Starkregen und Stürme töten oder verletzen Menschen, zerstören Ernten und Infrastruktur. Sich verändernde Lebensbedingungen treiben Bevölkerungen auf die Flucht und führen zu Kämpfen um Ressourcen.
In welcher politischen Großwetterlage findet die Weltklimakonferenz statt?
Krieg in der Ukraine und in Nahost, dazu Konflikte und Spannungen in vielen anderen Teilen der Welt: Es gab schon bessere Zeiten für die jährliche Konferenz der Vertragspartner der Klimarahmenkonvention. Aus der 1992 verabschiedeten Konvention ging 2015 das Pariser Klimaabkommen hervor. Zwischenzeitlich gab es Gerüchte, wonach die 28. Auflage der Conference of the Parties (COP 28) wegen des Überfalls der Hamas auf Israel verschoben werden könnte. Doch das ist mittlerweile vom Tisch. Gastgeber des Treffens sind die Vereinigten Arabischen Emirate. Er wolle sich mit aller Kraft für mehr Klimaschutz einsetzen, kündigt der Konferenzpräsident Sultan Ahmed AlDschabir auf der COP 28-Homepage an. Kritiker haben allerdings Sorge, dass Al-Dschabir als Chef des staatlichen Ölunternehmens Adnoc und Industrieminister nicht der richtige Mann ist, um den angestrebten Ausstieg aus der fossilen Energie voranzutreiben. Neben Klima- und Umweltschützern haben sich auch zahlreiche Lobbyisten aus der Öl-Branche zur Weltklimakonferenz angekündigt.
Was steht in Dubai auf der Agenda?
In Dubai will die Staatengemeinschaft die erste globale Bestandsaufnahme zur Umsetzung des Pariser Abkommens vornehmen. Wie ist es möglich, den Ausstoß klimaschädlicher Gase doch noch wie angepeilt bis 2030 um die Hälfte zu reduzieren? Notwendig dafür wäre ein zügiger Ausstieg aus Öl, Kohle und Gas, ein Ausbau erneuerbarer Energien wie Solar- und Windkraftanlagen und - vor allem in den reichen Ländern des Nordens - ein Lebensstil, der deutlich weniger Ressourcen verbraucht als bisher. Die Wissenschaftler des Umweltprogramms der Vereinten Nationen halten zudem mittel- und langfristig auch eine aktive Entnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre unverzichtbar. Die entsprechenden Technologien sind allerdings noch nicht im großen Stil einsetzbar. Auch rund um die langfristige Einlagerung von Kohlendioxid sind Fragen zur Machbarkeit und möglichen Risiken oen. Weitere wichtige Punkte sind ein Ausbau der Katastrophenvorsorge und eine Anpassung der Landwirtschaft an den Klimawandel. Zu den Dauerbrennern auf den Weltklimakonferenzen gehören schließlich Debatten ums Geld. Konkreter: Wer entschädigt wie und mit welchen Summen jene - meist ärmeren - Staaten, die schon jetzt unter den Folgen des Klimawandels leiden? Ein wichtiges Schlagwort dazu lautet „Loss and Damage“, zu deutsch „Schäden und Verluste“.
Welche „Promis reisen in die Vereinigten Arabischen Emirate?
In diesem Jahr dürften der britische König Charles III. und Papst Franziskus die größte Aufmerksamkeit bekommen. Beide setzen sich seit Jahren für den Umwelt- und Klimaschutz ein. Der Papst wird vom 1. bis 3. Dezember in Dubai erwartet. Bleibt die Frage, welche Rolle Greta Thunberg spielen wird. Die 20-jährige Klimaaktivistin hat sich zuletzt mit Äußerungen zum Gaza-Krieg und mit ihrer Parteinahme für die Palästinenser ins Abseits gebracht.
Vor 50 Jahren starb Ben Gurion - Gründer des modernen Israel Beginn einer „unmöglichen Freundschaft“
Er gilt als Vater der Nation, als Gründervater Israels. David Ben Gurion forcierte den Traum von der jüdischen Heimstatt zum demokratischen Staat und wurde Israels erste Ministerpräsident. Er starb vor 50 Jahren.
Von Johannes Schidelko (KNA)
Die Gründungszeremonie war schlicht und emotional - und löste einen Krieg aus, ähnlich dem, der den Nahen Osten derzeit erneut erschüttert. Am Nachmittag des 14. Mai 1948 proklamierte David Ben Gurion im Tel Aviver Kunstmuseum den „jüdischen Staat im Land Israel, den Staat Israel“. Vor 350 geladenen Gästen verlas er die Unabhängigkeitserklärung. Rabbi Fishman sprach mit bewegter Stimme den Schehechejanu-Segen. Dann intonierte ein Orchester die Nationalhymne Hatikwa. Die Zeremonie dauerte 32 Minuten.
„2.000 Jahre haben wir auf diese Stunde gewartet“, eröffnete Ben Gurion seine Rede. Mit Mut, Bereitschaft zum Risiko und Gespür für den richtigen Zeitpunkt hatte der 62- Jährige das Machtvakuum zum Ende des britischen Mandats über Palästina genutzt. Wenige Stunden nach der Zeremonie griffen fünf arabische Staaten den neuen Nachbarn an, der mit zusammengekauften tschechischen Waffen den erfolgreichen Widerstand organisierte. Die Waffenstillstandslinien von 1949 umschlossen ein größeres jüdisches Terrain als der UNO-Teilungsplan von 1947. Dabei wollte Ben Gurion, 1886 in Plonsk im zaristischen Polen als David Grün geboren und von Jugend an begeisterter Sozialist und Zionist, den Nachbarstaaten „die Hand zum Frieden und zu guter Nachbarschaft“ reichen. Die in Israel lebenden Araber rief er auf, sich gleichberechtigt am Aufbau des neuen Staates zu beteiligen. Aber sie machten mobil. Schon 1906 war Ben Gurion nach Palästina ausgewandert. 1915 heiratete er die jüdisch-russische Bibliothekarin Paula Munweis, mit der er drei Kinder hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg gründete er die sozialistische Arbeiterpartei Mapai, die führende Kraft der zionistischen Bewegung, die die jüdische Einwanderung nach Palästina und die Gründung jüdischer Siedlungen forcierte. In seine dreizehn Jahre lange, 1953 kurz unterbrochene Amtszeit fiel 1956 der Suez-Krieg. 1960 überraschte Ben Gurion die internationale Öffentlichkeit mit der Entführung des Holocaust-Koordinators Adolf Eichmann aus Argentinien, der in Israel vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt wurde. 1963 trat er vom Amt des Premiers zurück, blieb aber bis 1970 Mitglied der Knesset. Nach dem Sechstagekrieg 1967 sprach er sich dagegen aus, weiteres arabisches Land zu annektieren.
Schon sehr früh trat Ben Gurion in Kontakt mit dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer. Die beiden verband eine zu ihrer Zeit „unmögliche Freundschaft“, die dann zu einer „unmöglichen Freundschaft“ der beiden Länder wurde, wie der frühere Adenauer-Stiftungs-Repräsentant in Jerusalem, Michael Borchard, schrieb. Schon kurz nach Amtsantritt plante Adenauer, das Verhältnis des deutschen Volkes zum Judentum und zum Staat Israel auf eine neue Grundlage zu stellen. Dabei signalisierte er die deutsche Bereitschaft zu einer Wiedergutmachung für das Unrecht des NS-Regimes an den Juden. Dies löste eine rege Geheimdiplomatie aus. Während in der israelischen Öffentlichkeit erhebliche Vorbehalte gegenüber der „Nation der Mörderinnen und Mörder“ und einem „Blutgeld“ bestanden - besonders geschürt von seinem Gegenspieler (und späteren Ministerpräsidenten) Menachim Begin -, war Ben Gurion zu Wiedergutmachungsverhandlungen bereit. Er wollte die Existenz Israels sichern, das infolge der wachsenden Einwanderung und der Waffenkäufe in massiver Geldnot war. Zum historischen Spitzentreffen kam es dann am 14. März im New Yorker Waldorf-Astoria-Hotel. Wegen der wartenden Journalisten stieg Ben Gurion über eine Feuerleiter zwei Etagen zur Adenauer-Suite hinab. Offenbar stimmte - trotz aller Unterschiede - die Chemie beim Zusammentreffen des katholischen Konservativen mit dem sozialistischen Zionisten, so Borchard. 1966, ein Jahr nachdem die Bundesrepublik Deutschland und Israel diplomatische Beziehungen aufgenommen hatten, besuchte der Pensionär Adenauer den ebenfalls pensionierten Premier in dessen Wüstenkibbuz. Als der Ex-Kanzler ein Jahr später starb, reiste Ben Gurion - als erster israelischer Spitzen-Repräsentant - zu dessen Beerdigung ins Rheinland. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Ben Gurion im Kibbuz Sede Boker im Negev. Er widmete sich der Lektüre; seine private Bibliothek umfasst mehr als 20.000 Bände. Er kannte elf Sprachen, konnte zwar nicht alle sprechen, wohl aber Deutsch. Zudem schrieb er seine Memoiren. Er starb am 1. Dezember 1973 nach kurzer Krankheit.
Kosovo-Bischof: Erneuter Krieg wäre Schande für die ganze Region
Pristina (KNA)
Der kosovarische Bischof Dode Gjergji ruft die Politiker der Region zum Dialog auf. Eine Versöhnung und friedliches Zusammenleben im jüngsten Land Europas seien möglich, betonte der Leiter des Bistums Prizren-Pristina im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Daran müsse man arbeiten.
2008 hatte der Kosovo seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt. Während die verschiedenen Ethnien des Landes kein Problem mit der neuen politischen Realität hätten, würden die Spannungen von politischer Seite weiter vorangetrieben, erklärte Gjergji. Die Menschen vor Ort, Serben wie Albaner, seien bereit, zusammenzuleben und eine Zukunft aufzubauen. Nach wie vor betrachtet die Regierung in Belgrad den Kosovo als serbisches Territorium. Die friedliche Beilegung des Streits gilt als eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Beitritt der beiden Staaten zur Europäischen Union (EU).
Laut Gjergji gebe es aber vor allem von serbischer Seite Aufholbedarf; betroffen sei neben der Politik auch die Kirche: „Leider ist es schwer, die orthodoxe Kirche zu überzeugen, den Kosovo als neue Realität zu akzeptieren und an der Versöhnung mitzuwirken.“ Es sei schade, dass man mit den orthodoxen Mitbrüdern noch nicht mit einer gemeinsamen Stimme für Frieden, Versöhnung und ein Zusammenleben sprechen könne, so der katholische Geistliche. Zuletzt war es trotz Vermittlungen der EU erneut zu Spannungen zwischen dem Kosovo und Serbien gekommen. Im September lieferten sich serbische Extremisten in der kosovarischen Stadt Banjska ein stundenlanges Gefecht mit Sicherheitskräften. Ein Polizist und drei Angreifer wurden getötet. „Es war eine schlimme Situation für uns alle - denn wir wollen keinen neuen Krieg“, betont Gjergji. Ein erneuter Militärkonflikt wäre nach seinen Worten „nicht nur eine große Schande für den Nordkosovo oder Serbien, sondern für uns alle, für die ganze Region“.
Faktencheck zum Kosovo:
KNA
Die Republik Kosovo liegt im westlichen Teil der Balkanhalbinsel und hat etwa 1,9 Millionen Einwohner. Die Hauptstadt ist Pristina mit offiziell mindestens 162.000 Bewohnern. Ein bewaffneter Aufstand der kosovo-albanischen Miliz UCK, deren Ziel eine staatliche Unabhängigkeit war, führte in der damals noch zu Jugoslawien gehörende Region zu einer Nato-Intervention mit Luftangriffen auf Serbien.
Von 1999 bis 2008 hatte die UN-Mission für die Übergangsverwaltung im Kosovo (UNMIK) das Sagen. 2008 erklärte sich Kosovo mit Zustimmung des Westens für unabhängig. Heute erkennen 111 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen das Land als eigenständig an. Nicht dazu zählen Serbien, Griechenland, Spanien, Rumänien, Zypern und die Slowakei. Offiziell hat sich auch der Vatikan bislang nicht geäußert.
Die Arbeitslosigkeit des Landes beträgt Schätzungen zufolge rund 40 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit etwa 55 Prozent. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung liegt bei 28,7 Jahren. Zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen zählen die Land- und Bauwirtschaft sowie der Bergbau. Große Bedeutung haben auch der Tourismus und der Geldtransfer der in Mitteleuropa lebenden Diaspora. Die Mehrheit des Landes ist muslimisch geprägt, wobei die meisten Menschen sunnitischen Glaubensrichtungen angehören. Rund drei Prozent sind katholisch und etwa vier Prozent serbisch-orthodox.
Die Bevölkerung setzt sich aus rund 91 Prozent Albanern und 4 Prozent Serben zusammen. Sie leben überwiegend im Norden des Landes, wo es immer wieder zu Spannungen zwischen den beiden Gruppen kommt. Hinzu kommen Minderheiten wie Roma, Aschkali, Balkan-Ägypter, Bosniaken, Türken und Goranen.
Amts- und Muttersprache (der meisten Bürger) ist Albanisch; in einzelnen Teilen wie Prizren und Mamusha wird auch Türkisch gesprochen. Durch hohe Arbeitsmigration ist Deutsch ähnlich weit verbreitet wie Englisch.
Seit der Parlamentswahl im Februar 2021 wird die Republik von Ministerpräsident Albin Kurti und seiner Partei Vetevendosje (Selbstbestimmung) zusammen mit der konservativen Demokratischen Liga des Kosovo (LDK) regiert. Der frühere politische Häftling gilt als ein politischer Hoffnungsträger und verspricht, sich während seiner Amtszeit gegen die landesweit grassierende Korruption einzusetzen.
Im Dezember 2022 hat Kosovo seinen EU-Beitrittsantrag eingereicht. Der Prozess könnte sich über Jahrzehnte ziehen; die Erteilung des Kandidatenstatus ist noch nicht erfolgt. Beschlossen ist hingegen Visa-Freiheit für Kosovaren. Eine Einreise in die EU soll voraussichtlich ab Ende 2024 zweimal pro Jahr für bis zu 90 Tage möglich werden.
Der 9. November als deutscher Tag - Tiefpunkte und Sternstunden
Novemberrevolution, Hitlerputsch, Novemberpogrome und Mauerfall: Der 9. November ist ein Gedenktag mit vielen verschiedenen Seiten.
Von Christoph Arens (KNA)
Er ist der wohl deutscheste aller Tage des Jahres. Wenn die Bundesbürger am 9. November auf ihre Geschichte zurückblicken, schauen sie auf absolute Tiefpunkte, aber auch auf Sternstunden. Novemberrevolution, Hitlerputsch, Novemberpogrome und Mauerfall: Der 9. November ist, wie es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im vergangenen Jahr formulierte, „ein Tag der Widersprüche, ein heller und ein dunkler Tag, ein Tag, der uns das abverlangt, was für immer zum Blick auf die deutsche Vergangenheit gehören wird: die Ambivalenz der Erinnerung“.
Steinmeier hatte 2022 dazu aufgerufen, dieses Datum als Tag des Nachdenkens über Deutschland intensiver zu begehen. Er hatte dafür plädiert, beides anzunehmen: Scham und Trauer über die Opfer sowie Respekt und Wertschätzung für die Wegbereiter der Demokratie.
Vertreter des Judentums tun sich schwer damit: Sie sorgen sich, dass damit die Erinnerung an die „Reichskristallnacht“ von 1938 und das Pogrom der Nazis gegen Juden und ihre Gotteshäuser in den Hintergrund treten könnte. Andererseits wird auch von Vertretern des Judentums eine Gedenkkultur kritisiert, die immer mehr zum Ritual wird.
Fest steht: Der 9. November ist ein Tag, an dem sich deutsche Geschichte verdichtet. Da ist der Fall der Mauer 1989. Endlich mal eine geglückte und friedliche Revolution - der glücklichste 9. November in der Geschichte der Deutschen. Weil die DDR-Bürger an diesem Tag letztlich den Weg zur Wiedervereinigung frei machten, war dieser Gedenktag zeitweilig sogar als Nationalfeiertag des vereinigten Deutschlands in der Diskussion. Doch ein uneingeschränkter Festtag hätte daraus nie werden können. Denn der 9. November markiert auch eine der dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte, den Absturz eines kulturell vermeintlich hoch stehenden Landes in die Barbarei: Am Abend des 9. November 1938 vollzog sich in Deutschland der bis dahin größte Judenpogrom der Neuzeit in Mitteleuropa. Mehr als 1.300 Menschen starben; mehr als 1.400 Synagogen und Beträume im gesamten Deutschen Reich wurden verwüstet und etwa 7.500 Geschäfte geplündert. Über 30.000 männliche Juden wurden in Konzentrationslager gebracht. Ein Zivilisationsbruch: Von den Novemberpogromen führte der Weg nach Auschwitz, Treblinka und Buchenwald. Zum 9. November gehört aber auch ein anderer heller Moment der deutschen Geschichte: die Novemberrevolution und das Ende der Monarchie am 9. November 1918. Dieser Tag, an dem der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Berliner Reichstagsgebäude aus die Republik ausrief, gilt als die Geburtsstunde der Demokratie in Deutschland.
Doch mit diesen Meilensteinen der Geschichte ist der 9. November noch immer nicht ausreichend als Gedenktag beschrieben. Am 9. November 1923 brach der sogenannte Hitlerputsch gegen die demokratische Reichsregierung in München kläglich zusammen.
Ebenfalls am Vorabend des 9. November, diesmal 1939, scheiterte auch der geplante Bombenanschlag des Handwerkers Georg Elser auf Hitler. Er hätte womöglich den Zweiten Weltkrieg noch verhindern können.
Weithin verschwunden aus der Gedenkkultur ist der 9. November 1848. Die standrechtliche Hinrichtung des republikanischen Parlamentsabgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, Robert Blum, nach dem Oktoberaufstand in Wien bedeutete eine offene Kampfansage der Vertreter der Monarchie gegen das aus der bürgerlichen Märzrevolution hervorgegangene erste demokratisch gewählte gesamtdeutsche Parlament. Die Hinrichtung Blums markierte einen entscheidenden Wendepunkt: den Anfang vom Ende dieser Revolution.
Papst fordert von Europa Umdenken in Sachen Migration
KNA
Papst Franziskus hat seine Forderungen nach einer neuen Migrationspolitik in Europa bekräftigt. Bei der Generalaudienz auf dem Petersplatz betonte er am Mittwoch, das Mittelmeer verbinde Menschen, Kulturen und Religionen. Es dürfe weder zu einem Grab noch zu einem Ort der Konflikte werden. Rückblickend auf seine Reise nach Marseille am vergangenen Wochenende rief er zu mehr Humanität und Achtung der Menschenwürde auf. Dazu gehöre auch, dass Menschen selbst über Auswandern oder Bleiben entscheiden könnten. Dazu bedürfe es konkreter lang-, mittel- und kurzfristiger Aktionen. Ein angemessenes Willkommen derjenigen, die nach Europa kommen, sei möglich, wenn die eigene Jugend in Europa eine Perspektive habe. Nur so könne man sich für Begegnungen und Austausch mit anderen Menschen öffnen. Die Mittelmeer-Region müsse wieder zu dem werden, wozu sie schon immer berufen gewesen sei: ein Mosaik der Zivilisation und der Hoffnung, so Franziskus. Am Samstagabend war der Papst von einer zweitägigen Reise in die französische Hafenstadt Marseille zurückgekehrt. Dort hatte er an einer Konferenz teilgenommen, bei der junge Menschen, Kommunalpolitiker und Religionsführer aus den Anrainerstaaten des Mittelmeers über aktuelle Herausforderungen berieten.
Papst wiederholt vor Weltsynode Botschaft einer offenen KircheUmfrage: Negativer Blick auf Zuwanderung nimmt zu in Deutschland
KNA
Laut einer aktuellen Umfrage hat der negative Blick auf Zuwanderung in Deutschland zugenommen. In einer repräsentativen Umfrage von infratest dimap für den ARD-Deutschlandtrend sagten 64 Prozent, Deutschland habe durch die Zuwanderung eher Nachteile. Im Mai gaben das 54 Prozent an. 27 Prozent sehen derzeit eher Vorteile. Damit wächst laut der Umfrage auch die Unterstützung für eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen: 64 Prozent der Befragten sprachen sich dafür aus, dass Deutschland weniger Flüchtlinge aufnehmen solle, im Mai waren es 52 Prozent. 27 Prozent sagten, sie wollten genauso viele Flüchtlinge wie derzeit aufnehmen, und 5 Prozent sprachen sich dafür aus, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen solle - im Mai sagten das 8 Prozent.
In der Frage nach konkreten Maßnahmen zum Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland fand eine Verstärkung der Grenzkontrollen die höchste Unterstützung mit 82 Prozent. 77 Prozent sprachen sich dafür aus, dass Deutschland mit afrikanischen Staaten ein Flüchtlingsabkommen abschließen sollte. 71 Prozent waren für die Einführung einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen und 69 Prozent für die Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsländer.
Der generell kritische Blick auf das Thema Migration spiegelt sich auch im Urteil über die aktuelle Flüchtlingspolitik wider: Dass die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern aktuell gut oder eher gut gelinge, fanden 9 Prozent. 14 Prozent waren der Ansicht, die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt gelinge gut oder eher gut. Der Aussage, dass die Integration von Flüchtlingen in die Gesellschaft generell gut oder eher gut gelinge, stimmten 16 Prozent zu. Bei einer ähnlichen Umfrage im September 2018 lagen all diese Werte deutlich höher. Besonders stark abgenommen seitdem hat die positive Bewertung mit Blick auf die Unterbringung und Verteilung von Flüchtlingen: Während im September 2018 noch 43 Prozent angaben, dass dies gut oder sehr gut gelinge, waren jetzt nur noch 19 Prozent dieser Ansicht.
Bei der Frage nach einer generellen Lösungsperspektive sprachen sich knapp zwei Drittel (64 Prozent) für eine Lösung auf EU-Ebene aus, ein knappes Drittel (31 Prozent) nannte eine Lösung auf nationaler Ebene sinnvoller (31 Prozent). Allerdings sagten 70 Prozent, sie glaubten nicht, dass eine Lösung auf europäischer Ebene zeitnah realisierbar sei
Papst wiederholt vor Weltsynode Botschaft einer offenen Kirche
KNA
Kurz vor Beginn der Weltsynode in Rom hat Papst Franziskus seine Botschaft von einer offenen Kirche für alle wiederholt. Kern der Kirche sei, den Glauben zu verkündigen. Kern der Verkündigung sei, jedem die Hand entgegenzustrecken, jeden willkommen zu heißen und jeden einzubinden, ohne jemanden auszuschließen, sagte Franziskus in einem Video zu seinem Gebetsanliegen für Oktober. Der Papst bittet darum, dass Zuhören und Dialog zu einem Stil auf jeder Ebene der Kirche werden.
Am Samstag hat mit einem Abendgebet auf dem Petersplatz die Weltsynode im Vatikan begonnen. Nach Besinnungstagen startet am 4. Oktober die Arbeitsphase für die 464 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, darunter 364 Stimmberechtigte.
Bei der Synode geht es um neue Umgangsformen und Mitgestaltungsmöglichkeiten in der Kirche. Erstmals haben bei einer Bischofssynode auch Frauen Stimmrecht.
„Es ist Zeit zu handeln“: ZdK-Präsidentin Stetter-Karp hofft auf mutige Schritte der Weltsynode
„Mutige Debatten und heiligen Geist“, wünscht die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Dr. Irme Stetter-Karp, der Weltsynode in Rom.
„Wenn sie in zwei Tagen beginnt, blicken Katholik*innen in Deutschland auf mehr als drei Jahre auf einem Synodalen Weg zurück, der sich den Zeichen der Zeit gestellt hat.“ Sie denke in diesen Tagen an den Brief, den Papst Franziskus 2019 nach Deutschland gesandt habe. Darin habe er von einer „Zeitenwende“ geschrieben, die Fragen aufwerfe, „angesichts derer eine Auseinandersetzung berechtigt und nötig ist“, erinnert sich die ZdK-Präsidentin. Sie erwarte, „dass diese Auseinandersetzung auch in Rom nicht gescheut wird. Es ist keine Zeit mehr zu zögern. Es ist Zeit zu handeln.“
Stetter-Karp ist dankbar für das Netzwerk, das sich während der diözesanen und kontinentalen Vorphasen der Weltsynode unter reforminteressierten Katholik*innen weltweit gegründet hat. „Auf dieses Netzwerk baue ich jetzt auch im Blick auf Rom. Für mich ist es ein gutes Zeichen, dass der Papst 80 Nicht-Bischöfe mit Stimmrecht ausgestattet hat, darunter 54 Frauen. Das ist ein erster, deutlicher Schritt hin zu einer synodalen Kirche. Der Papst würdigt damit, dass die Kirche nicht nur aus geweihten Männern besteht. Das ist sehr wichtig und ein Zeichen für die Zukunft.“
Zu den weiblichen Delegierten in Rom gehört die Schweizerin Helena Jeppesen-Spuhler. „Damit die Kirche sich glaubwürdig engagieren kann zu den großen Fragen unserer Zeit, müssen wir zuerst nach innen realisieren, was wir nach außen verkündigen», sagt sie. «Gleiche Würde und gleiche Rechte sollen auch in der Kirche gelten.» Die Kirche brauche Gewaltenteilung und partizipative Entscheidungsprozesse: «Beraten und Entscheiden gehören zusammen! Dies werden wir in der Synode anhand des Arbeitsdokuments diskutieren.»
Jeppesen-Spuhler, die in der Schweiz für «Fastenaktion», einem katholischen Hilfswerk arbeitet, sieht die Glaubwürdigkeit der Kirche wegen der Missbrauchsskandale im dramatischen Sinkflug. «Das bekommen kirchliche Hilfswerke, Kinder- und Jugendverbände und alle Engagierten in den Pfarreien zu spüren. Auch die kirchlichen Frauen- und Jugendverbände leiden enorm unter dem Image-Verlust.» Der Weg der Weltsynode müsse ganz klar nach vorn führen: «Stillstand geht nicht!»
Geert De Cubber, ständiger Diakon im Bistum Gent/Belgien, ist ebenfalls Delegierter auf der Weltsynode und war wie Jeppesen-Spuhler und Stetter-Karp Teilnehmender der kontinentalen Versammlung in Prag. „Ich wünsche mir eine offene Haltung von allen bei den Beratungen. Auf jeden Fall hoffe ich mindestens, dass der heilige Geist auch wirklich dabei sein darf und dass wir einander zuhören können. Ich hoffe weiter, dass wir der Welt zeigen können, dass man sich in der Kirche wirklich bemüht, einander zu begreifen, auch bei verschiedenen Standpunkten. Vielleicht ist das sogar der wichtigste Punkt für mich“, sagt De Cubber. „Ich träume davon, dass wir weitere Schritte unternehmen können für Personen die sich irgendwie von der Kirche ausgeschlossen fühlen.“ Papst Franziskus habe während der Weltjugendtage in Lissabon gesagt: „Die Kirche ist offen für alle.” Die halte er für sehr wichtig, so De Cubber.
Auch Sr. Prof. Dr. Birgit Weiler, Mitglied des Ordens der missionsärztlichen Schwestern, Peru, hofft auf die Kraft der Weltsynode. Sie ist – wie Stetter-Karp – nicht delegiert, aber mit wachen Augen und Ohren dabei. 2019 war sie Delegierte der Amazonassynode und hat dort erlebt, dass neue Wege realistisch einzuleiten sind. „Synodalität braucht das Miteinander im Beraten und Entscheiden. Denn Gottes Geist spricht durch das gesamte Volk Gottes. Das erfordert ein wechselseitigen Hören aufeinander.“ Synodalität sei in der Kirche nicht neu. „Es gab sie bereits in den ersten Jahrhunderten des Christentums. Denn aus der Taufe resultiert die Mitverantwortung aller Mitglieder des Volkes Gottes für die Kirche.“
Synodalität müsse deshalb wieder „zu einem wesentlichen Merkmal unserer Kirche werden. Das erfordert eine konsequente Umsetzung des II. Vatikanischen Konzils“. Das Netz der weltweit verbundenen Katholik*innen sei sehr wichtig für die wechselseitige Inspiration und Ermutigung auf dem Weg dorthin. „In ihm bringen Frauen und Männer ihre Reformanliegen in Bezug auf die katholische Kirche gemeinsam im weltweiten Horizont zum Ausdruck.“
Weiler hofft vor allem auf eine Einsicht: „Insbesondere Frauen sind von Machtmissbrauch in der Kirche betroffen. Es braucht ihre effektive Beteiligung an den Prozessen des Beratens und Entscheidens sowie an Leitung in der Kirche – auf allen Ebenen.“
Als Berater mit dabei ist ZdK-Vizepräsident Prof. Thomas Söding.
Seine Eindrücke zu den Beratungen der Weltsynode können Sie ab Mittwoch täglich in unserem Newsletter in der Reihe „Synode mit Söding" lesen.
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Vor 75 Jahren begann die Arbeit am Grundgesetz
Als vor 75 Jahren der Auftrag an die Deutschen kam, sich eine Verfassung zu geben, war das Echo eher mau.
Von Nicola Trenz (KNA)
Vor 75 Jahren kam dort der sogenannte Parlamentarische Rat in der ehemaligen Pädagogischen Akademie in Bonn zusammen. Dessen Auftrag: Deutschland eine ordentliche Verfassung zu geben. Die drei westlichen Besatzungsmächte drängten 1948 auf die Gründung eines westdeutschen Staates. Die Entwicklung des Kalten Krieges hatte damals die Hoffnung gedämpft, dass es zu einer Staatsbildung inklusive der sowjetischen Besatzungszone kommen könnte. Also ging von den West-Alliierten der Auftrag an die damals elf deutschen Bundesländer, in einer verfassungsgebenden Versammlung einen westdeutschen Staat mit einer freien und demokratischen Regierungsform vorzubereiten. Sie gestanden dem deutschen Volk als Kriegsverlierer schrittweise eine eigene Regierungsverantwortung zu, bereiteten damit aber letztlich den Weg hin zur deutschen Teilung. Die Ministerpräsidenten waren davon nicht begeistert und wollten den provisorischen Charakter dieser neuen Organisationseinheit betonen. Man einigte sich darauf, die Verfassung nicht als solche zu bezeichnen, sondern ein „Grundgesetz“ auszuarbeiten. Regelungen, die Westdeutschland als vollwertigen Nationalstaat hätten ausweisen können, vermieden die Politiker mit Blick auf Ostdeutschland.
So tagte vom 10. bis zum 23. August 1948 zunächst ein Verfassungskonvent auf Schloss Herrenchiemsee. Vor allem Sachverständige waren es, die dort die verfassungsgebende Versammlung vorbereiteten und die am 13. August entschieden, dass der Parlamentarische Rat in Bonn tagen soll.
Mit einem Festakt begannen hier wenige Tage später - am 1. September 1948 - die Arbeiten zum Grundgesetz der Bundesrepublik. 61 Herren und 4 Damen, allesamt Mitglieder der Landesparlamente, waren damit betraut. Entsandt nach Fraktionsstärke der Landesparlamente, ergab es sich zufällig, dass CDU/CSU und SPD jeweils 27 Mitglieder stellten. Die FDP gestaltete mit fünf Männern die neue Verfassung. Die Deutsche Partei (DP), die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und die Zentrumspartei schickten jeweils zwei Mitglieder.
Knapp neun Monate nach der Eröffnung wird Adenauer als Präsident des Parlamentarischen Rates sagen: „Heute, am 23. Mai 1949, beginnt ein neuer Abschnitt in der wechselvollen Geschichte unseres Volkes.“
Innenministerin Faeser will Sozialpraktika an Schulen einführen
KNA 16.08.2023
In der Debatte über die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes in Deutschland schlägt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) einen anderen Weg vor. „Ich plädiere dafür, Sozialpraktika an Schulen einzuführen“ , sagte sie der Rheinischen Post. Dadurch würden junge Menschen früh spüren, was sie Gutes bewirken können. So führt man sie an die soziale Arbeit heran. Zugleich betonte die SPD-Politikerin, sie wolle das Ehrenamt weiter stärken - „gerade in unseren großartigen Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz oder dem THW“ .
Zuletzt hatten Politik und Sozialverbände über die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes in Deutschland diskutiert, wie ihn etwa Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vorgeschlagen hatte. Zugleich hatte die Ampelkoalition deutliche finanzielle Einschnitte bei den Freiwilligendiensten an gekündigt. Und das, obwohl im Koalitionsvertrag noch erklärt wurde, dass sie gestärkt werden sollen.
Unter anderem hatte SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese Ende Juli angekündigt, die SPD wolle nach der Sommerpause die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes von mindestens drei Monaten angehen. Andere aus seiner Partei hatten widersprochen und betont, es handele sich nur um einen persönlichen Debattenbeitrag Wieses.
Ablehnend äußerte sich auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). Freiwilligendienste seien besser, denn ein staatlicher Eingriff in den Lebenslauf junger Menschen sei verfehlt: Auch angesichts des Fachkräftemangels ist dieser Vorstoß wenig hilfreich.
Die CDU begrüßte Wieses Vorschlag und rief die SPD zur Zusammenarbeit in diesem Bereich auf. Ein Gesellschaftsjahr habe das Potenzial, der Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken, denn es bringe Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus zueinander.
Sozialverbände äußerten sich überwiegend ablehnend. Für Interessierte gebe es bereits die bewährten Freiwilligendienste. Und soziale Arbeit setze Empathie voraus, die nicht staatlich verordnet werden könne. Soziale Berufe bräuchten motiviertes und gut ausgebildetes Personal.
Vor 75 Jahren tagte auf Herrenchiemsee der Verfassungskonvent - Die bayerische Wiege des Grundgesetzes
Drei Zigarren und eine Maß Bier standen jedem der Experten pro Tag zu, als sie vor 75 Jahren auf Herrenchiemsee die Grundlagen für das Grundgesetz schufen.
Von Barbara Just (KNA)
Der Auftrag kam von den Alliierten in den westdeutschen Besatzungszonen: Die USA, Großbritannien und Frankreich forderten im Juli 1948 die Ministerpräsidenten der Bundesländer auf, eine Verfassung auszuarbeiten. Hans Ehard (CSU) aus Bayern ergriff die Initiative und schlug einen besonders ruhigen Ort vor, um mit Experten eine Vorlage für den geplanten Parlamentarischen Rat zu schaffen: die Herreninsel im Chiemsee. Nicht nur mit der traumhaften Lage im Voralpenland lockte er die Kollegen, sondern auch mit dem Hinweis, dass es dort nur zwei Telefone gebe - Diskretion wäre gewährleistet und der Einfluss der Parteien minimiert.
Das Angebot stieß auf Wohlwollen. So reisten vom 10. bis 23. August 1948 rund 30 Länderbevollmächtigte und Experten ins Chiemgau. 13 Tage und Nächte diskutierten sie intensiv, wie eine Verfassung für das künftige Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aussehen sollte. Die Sitzungen wurden beizeiten unterbrochen, um sich die Füße zu vertreten. Beim Spazieren über die weitläufige Insel ergab sich die Möglichkeit, in einer kleinen Gruppe Fachfragen weiter zu erörtern. Manche der Herren hatten ihre Ehefrauen und Kinder mitgebracht. Zur positiven Atmosphäre dürfte auch beigetragen haben, dass jeder Teilnehmer pro Tag das Anrecht auf drei Zigarren oder zwölf Zigaretten hatte. Zum Trinken waren eine halbe Flasche Wein oder ein Liter Bier zugesagt.
(Bitte Bild Kloster einfügen) Als Tagungsort diente nicht das von Ludwig II. (1845- 1886) nach dem Vorbild von Versailles errichtete Schloss, sondern das alte Augustiner-Chorherrenstift. In jenem Zimmer, wo der König einst zu speisen pflegte, als er die Arbeiten am Neubau verfolgte, saßen nun Staatsrechtler wie Carlo Schmid und Theodor Maunz. Sie brachten in großer Runde ihr Fachwissen ein. Die als Gastgeber fungierenden Bayern hatten eine Vorlage erarbeitet, in der Hoffnung, damit den Konvent gleich zu Beginn in die entsprechende Richtung treiben zu können. Eine der prägenden Persönlichkeiten war der Chef der bayerischen Staatskanzlei, Anton Pfeifer. Pfeiffer vertrat eine föderalistische Politik auf katholischer Grundlage. Die Experten beschäftigten sich mit den Grundrechten, der Rolle des Föderalismus und dem Schutz des Regierungssystems vor antidemokratischen Angriffen. Zentrale Fragen, die heute wieder aktuell sind.
Am Ende des Treffens 1948 stand ein 93-seitiger Bericht, der dem Parlamentarischen Rat zugeleitet wurde. Angesichts der drohenden Spaltung Deutschlands in West und Ost schlugen die Experten den Begriff „Grundgesetz“ vor, um alle Möglichkeiten einer späteren Vereinigung offen zu halten.
Und wer mehr wissen will, der wird hier fündig:
https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Verfassungskonvent_von_Herrenchiemsee,_10.-23._August_1948#Das_Ergebnis_des_Verfassungskonvents
Und wer es genau wissen will: Hier der Entwurf als Text https://www.verfassungen.de/de49/chiemseerentwurf48.htm
90 Jahre Reichskonkordat von Hitler-Deutschland und Vatikan am 30. Juli 1933 abgeschlossen
„Den Teufel in die Schranken weisen“ - Das Reichskonkordat des Heiligen Stuhls mit dem NS-Regime war einer der umstrittensten Verträge im 20. Jahrhundert - und gilt doch bis heute. Auch nach 90 Jahren gehen die Meinungen darüber auseinander.
Von Gregor Krumpholz (KNA)
Verträge mit Unrechtsregimen haben nach deren Ende in der Regel keine lange Dauer. Doch das Reichskonkordat des Heiligen Stuhls mit dem nationalsozialistischen Deutschland ist bis heute in Kraft.
Zum 90. Jahrestag des Vertragsschlusses am 20. Juli ging es bei einer Veranstaltung der Katholischen Akademie Berlin am Mittwochabend um das umstrittene Abkommen, das die Beziehungen zwischen Staat und Kirche umfassend regelt. Beim Auftakt setzte der Papst-Botschafter in Deutschland, Erzbischof Nikola Eterovic, einen markanten Akzent: Der Heilige Stuhl schaut heute auf das Bestehen dieses Konkordats mit Zufriedenheit zurück, betonte der Apostolische Nuntius aller Kritik zum Trotz. Der Vertrag habe dazu beigetragen, kirchliches Leben in Deutschland zu garantieren, auch wenn es den nationalsozialistischen Kirchenkampf nicht verhindert hat.
Zwar räumte Eterovic ein, dass die Entstehung des Reichskonkordats in die frühe Epoche der nationalsozialistischen Gleichschaltung des kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens in Deutschland fiel, und somit beide Vertragspartner unter ungleichen Voraussetzungen verhandelten. Es sei jedoch sowjetische und nationalsozialistische Propaganda gewesen, den Vertrag vor allem als ersten außenpolitischen Erfolg Hitlers zu sehen. Eine solche Bewertung habe den Heiligen Stuhl in Misskredit bringen sollen. Dies beeinflusse Historiker bis heute, bedauerte der Nuntius. Er kritisierte, dass für manche Behauptungen sogar Quellen aus dem Italienischen verfälscht interpretiert oder sogar falsch übersetzt worden sind. Sie seien in das Narrativ einer international agierenden anti-katholischen Geschichtsschreibung eingegangen. Dagegen habe das Bundesverfassungsgericht 1957 unbeirrt von dieser zeitgenössisch und bis in die bürgerlichen Parteien propagierten Polemik die Gültigkeit des Reichskonkordats für die Bundesrepublik Deutschland anerkannt, weil der westdeutsche Staat völkerrechtlich mit dem Deutschen Reich identisch gewesen sei, würdigte der Nuntius.
Der Potsdamer Historiker Thomas Brechenmacher hob den Zeitdruck hervor, unter dem das Reichskonkordat entstand. Der Vatikan habe möglichst schnell einen schützenden Damm für deutsche Katholiken gegen staatliche Übergriffe schaffen wollen, solange das kirchenfeindliche NS-Regime noch im Aufbau gewesen sei. Man wollte den Teufel in die Schranken weisen, brachte Brechenmacher die Intention des Heiligen Stuhls auf den Punkt, war Hitler aber nicht ganz gewachsen. So habe es schon während der Vertragsverhandlungen Übergriffe gegenüber Priestern und katholischen Organisationen gegeben, die auch international beachtet wurden. Dennoch sei das Konkordat für die Nationalsozialisten ein Prestigeerfolg nach außen gewesen, räumte Brechenmacher ein.
Umfrage: Jüngere für Gesellschaftsdienst - zur Orientierung
Von Paula Konersmann (KNA)
Sozial, ökologisch oder bei der Bundeswehr: Eine Mehrheit der Menschen in Deutschland befürwortet ein Pflichtjahr in einem sogenannten Gesellschaftsdienst. Zu diesem Ergebnis kommt der Ehrenamtsmonitor der Malteser, der am Mittwoch in Köln veröffentlicht wurde. Zudem sei das freiwillige, unentgeltliche Engagement für eine Mehrheit zuletzt wichtiger geworden. Die Ergebnisse lieferten Argumente, mehr Verbindlichkeit im Engagement für die Gesellschaft zu schaffen, sagte die Leiterin der Malteser Freiwilligendienste, Barbara Caron. Die offenkundige Bereitschaft unter Jüngeren sollte aufgegriffen werden. Insgesamt sprachen sich 62 Prozent der Befragten für einen verpflichtenden Gesellschaftsdienst aus; unter den Befragten unter 25 Jahren waren es 45 Prozent. Diese hohe Zustimmung unter den Jüngeren bezeichneten die Malteser als überraschend.
Allerdings: In diesen Tagen verlassen wieder hunderttausende Schülerinnen und Schüler die Schule - viele davon ohne klare Perspektive und Vorstellung, was sie machen möchten. Viele Schulabgängerinnen und -abgänger seien nicht einmal volljährig - eine Entwicklung, die sich in den kommenden Jahren verschärfen werde, wenn das Turbo-Abi in Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Bayern oder SchleswigHolstein langsam auslaufe. 68 Prozent der Befragten erklärten, ein soziales oder ökologisches Jahre könnte Klarheit über die Berufsorientierung geben. Fast drei Viertel (73 Prozent) der Befragten erklärten, dass ein solches Jahr die Solidarität junger Erwachsener mit der Gesellschaft fördern würde. Auch nannten 62 Prozent die Abhilfe gegen Personalengpässe als Vorzug eines solches Pflichtjahres. 48 Prozent sehen es nach eigenen Worten als notwendig für die Landesverteidigung an. Tatsächlich haben 61 Prozent der Befragten nach eigenen Worten weder freiwillig noch verpflichtend einen entsprechenden Dienst geleistet. Von denjenigen, die einen Dienst absolviert haben, sagten 78 Prozent, dass diese Zeit sie persönlich weitergebracht habe; 60 Prozent haben wertvolle Erfahrungen für das spätere Berufsleben gesammelt. Auch ehrenamtliches Engagement nimmt der Monitor in den Blick: 22 Prozent der Befragten engagieren sich bereits, 41 Prozent können es sich vorstellen. In diesem Bereich sind jüngere Menschen ebenfalls besonders aufgeschlossen, wie es hieß: Nur rund ein Fünftel der Befragten zwischen 18 und 44 Jahren kann sich kein Ehrenamt vorstellen. Als Hindernisse wurden insgesamt am häufigsten gesundheitliche Probleme (37 Prozent) und Zeitmangel (36 Prozent) genannt. Bei der Förderung des freiwilligen Engagements ist aus Sicht der Malteser noch Luft nach oben, etwa durch eine bessere staatliche Förderung, flexible Einsatzzeiten oder eine Anerkennung durch Arbeitgeber. An der Befragung des Portals YouGov im Auftrag der Malteser beteiligten sich im Mai 2.054 Menschen. Die Umfrage ist den Angaben zufolge repräsentativ nach Alter (ab 18 Jahren), Geschlecht und Religion.
Und wer es genau wissen will, hier geht es zum ganzen Bericht:
malteser-ehrenamtsmonitor-juni2023.pdf
Und hier finden Sie die Überlegungen der GKS zu diesem Thema:
https://gemeinschaft-katholischer-soldaten.de/themen/allgemeiner-gesellschaftsdienst
Ein Blick zum evangelischen Kirchentag
Pistorius debattiert mit Kirchenvertretern über Ukrainekrieg
KNA
Ein Stopp westlicher Waffenlieferungen an die Ukraine würde nach Aussage von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) zwar ein schnelles Ende des Krieges bedeuten. „Aber eben auch ein Ende der Ukraine“, so der Minister am Samstag beim Ökumenischen Kirchentag in Osnabrück. Bisher fehlten leider entscheidende Schritte, um den Weg von Verhandlungen zum Frieden gehen zu können.
Pistorius reagierte damit auf das Plädoyer des katholischen Domkapitulars Theo Paul, sich auch Beispiele gewaltfreien Widerstands der Ukrainer anzuschauen und zu würdigen. „Warum sind wir heute bereit, einer anderen Logik - jener der Waffen - so gerne zu folgen?“, fragte Paul bei einer Diskussion über Politik, Kirchen und Krieg im Osnabrücker Dom. „Es gibt auch andere Wege; sonst kommen wir aus dieser Sackgasse nicht wieder heraus“, mahnte Paul.
Ähnlich kritisch äußerte sich Susanne Bei der Wieden, Präses der evangelisch-reformierten Kirche in Deutschland. Auch wenn klar sei, wer für den Ukraine-Krieg verantwortlich ist - nämlich Wladimir Putin -, und der Ukraine bei ihrer Verteidigung zu helfen sei, dürfe man nicht vereinfachen und polarisieren. „Wo läuft es hin, wenn eine neue Rüstungspolitik angesagt ist?“, so Bei der Wieden. Der Ukraine-Krieg dürfe nicht in eine Endlosschleife geraten und zu einem neuen Dreißigjährigen Krieg werden. Wenn derzeit ein weltweites Wettrüsten mit Waffenexporten stattfinde, dann sollten verantwortliche Politiker dies auch klar benennen. „Wir verbrennen im Moment Milliarden, die wir im Kampf gegen Hunger und den Klimaschutz brauchen“, kritisierte die Theologin.
Der Ökumenische Kirchentag ist Teil der 375-Jahr-Feier zum Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück von 1648. Der evangelische Landesbischof Ralf Meister riet dazu, genau zu überlegen, aus welcher Rolle die Kirche sprechen. „Was ich in der Ukraine erlebt habe, macht mich noch unsicherer bei etwaigen Ratschlägen“, so der Landesbischof. Er könne zu den Ukrainern gerade nicht über Versöhnung sprechen. „Was ich gehört habe, macht mich schweigsamer“, fügte Meister hinzu. Vorerst müsse man den Menschen in der Ukraine in notwendigstem Maße zur Selbstverteidigung helfen. Das ändere nichts an der Einigkeit im Ziel, den Krieg zu beenden und Frieden zu schaffen.
Altbundespräsident Christian Wulf beklagte, dass vielerorts das Vergessen stärker werde als das Erinnern. Angesichts brüchiger Demokratien, die zudem angegriffen und unterwandert würden, rief Wulff dazu auf, sich in Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Initiativen zu engagieren. In der Hinsicht hätten auch einfache Bürger Einfluss und Macht. Weltweit gestärkter Gemeinschaftssinn sei eine wichtige Voraussetzung für Frieden.
Hilfswerke: Überwindung von Armut und Hunger in weiter Ferne
Die Vereinten Nationen haben sich für 2030 große Ziele vorgenommen, darunter, Hunger und Armut weltweit zu beenden. Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe und terre des hommes sehen die Ziele kaum noch erreichbar.
Von Michael Kinnen (KNA)
Die Welthungerhilfe und die Kinderrechtsorganisation terre des hommes sehen die Erreichbarkeit der UNEntwicklungsziele aus der Agenda 2030 in Gefahr. Die Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und die Auswirkungen der Corona-Pandemie seien aber nicht allein entscheidend dafür, dass die Überwindung von Armut und Hunger in immer weitere Ferne zu rücken scheint, erklärten die beiden Hilfswerke bei der Vorstellung ihres jährlichen „Kompass zur deutschen Entwicklungspolitik“ am Donnerstag in Berlin. Ein Großteil der aktuellen Herausforderungen resultiere aus Versäumnissen der Vergangenheit.
Mit der Agenda 2030 haben die Vereinten Nationen im Jahr 2015 insgesamt 17 globale Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) bis zum Jahr 2030 formuliert, darunter Armut und Hunger weltweit zu beenden und Ernährung zu sichern, den Klimaschutz umzusetzen, hochwertige Bildung und Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen und menschenwürdige Arbeit und nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu verbinden.
Die Zahl der vom Hunger Betroffenen habe sich weltweit auf 828 Millionen erhöht. Die Zahl der Wetterextreme habe sich seit 1990 verdoppelt. Das seien alarmierende Trends, erklärte der Generalsekretär der Welthungerhilfe, Matthias Mogge. Die Welt befinde sich im Krisenmodus.
Unter anderem forderten die Organisationen, dass die Bundesregierung ihren Beitrag zur internationalen Klimafinanzierung bis 2025 auf mindestens acht Milliarden Euro jährlich aufstockt. Deutschland hatte bislang eine Erhöhung bis 2025 auf insgesamt sechs Milliarden Euro pro Jahr angekündigt. Im Jahr 2021 lag sie bei 5,34 Milliarden. Die Zahlen für das vergangene Jahr sollen bis Herbst vorliegen, hieß es.
Der Bericht „Kompass - zur Wirklichkeit der deutschen Entwicklungspolitik“ erscheint in diesem Jahr zum 30. Mal. Wer es genau wissen will, der findet den Bericht hier: https://www.welthungerhilfe.de/informieren/themen/politik-veraendern/kompass-2023
Weltflüchtlingstag - Kinder leiden in besonderem Maße
Ob im Krieg oder auf der Flucht - oft sind Kinder die Hauptleidtragenden. Hilfsorganisationen fordern zum Weltflüchtlingstag deshalb mehr finanzielle Unterstützung für junge Vertriebene. Sonst droht die Gewaltspirale.
Von Clara Engelien (KNA) Berlin
Unter Krisen und gewaltsamen Konflikten haben besonders Kinder zu leiden - das zeigen Untersuchungen im Vorfeld des Weltflüchtlingstags am 20. Juni. Obwohl Kinder nur 30 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, liegt ihr Anteil an der Gesamtzahl der gewaltsam vertriebenen Menschen bei 40 Prozent, wie aus dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hervorgeht.
Die Kinderhilfsorganisation World Vision fordert mehr finanzielle Unterstützung.
Laut UNHCR-Bericht lag die Zahl der weltweit vertriebenen Menschen bis Mai auf einem Rekordhoch von 110 Millionen. Dabei zeige sich, dass die 46 am wenigsten entwickelten Länder, die zusammen weniger als 1,3 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts ausmachen, mehr als ein Fünftel aller Flüchtlinge aufgenommen haben.
Die Mittel zur Unterstützung der Gastgeberländer sind dem Bericht zufolge 2022 jedoch hinter dem Bedarf zurückgeblieben und flössen auch 2023 bei steigendem Bedarf nur schleppend.
Einem ebenfalls am Mittwoch vom Hilfswerk veröffentlichten Bericht zufolge steigen Hunger und Gewalt gegen Kinder in Fluchtsituationen deutlich an. Dem Bericht liegt den Angaben zufolge eine Befragung unter Flüchtlingen und Binnenvertriebenen zugrunde. Die Zahl der vertriebenen Familien, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr selbstständig bestreiten könne, hat sich demnach innerhalb eines Jahres verdoppelt. Rund 82 Prozent der geflüchteten Familien müssten bereits regelmäßig auf Mahlzeiten verzichten, um mit dem geringeren Einkommen zurechtzukommen. Zu den Ländern, die am meisten betroffen sind, zählen laut Bericht Burkina Faso, Äthiopien und Afghanistan. In fast einem Drittel der Haushalte könnten Kinder nicht zur Schule gehen; nur 11 Prozent der Haushalte könnten einen Schulbesuch vollständig finanzieren. Viele Kinder müssten arbeiten gehen, um zum Familieneinkommen beizutragen, oder würden besonders früh verheiratet, um anderweitig versorgt zu werden. Auf der Suche nach Schutz schlössen sich einige Kinder auch bewaffneten Gruppen an, so der Bericht.
Mehr Informationen: Weltflüchtlingsbericht 2022 Global Trends Report 2022 | UNHCR
Vor 75 Jahren begann die elfmonatige Berliner Luftbrücke
Tag und Nacht haben die Flugzeugmotoren gedröhnt.Wenige Jahre zuvor waren sie mit Bomben gekommen - nun brachten sie im Akkord Lebensmittel: Die Berliner Luftbrücke rettete die abgeriegelte Millionenstadt und prägte das Bild der Deutschen von den Westmächten.
Von Gregor Krumpholz (KNA)
Sie flogen so tief, dass man das Gefühl hatte, sie anfassen zu können, erinnert sich Elisabeth Hanky. Die landenden Flugzeuge der Berliner Luftbrücke hat sie, damals zwölf Jahre alt, noch vor Augen als wäre es heute, 75 Jahre später. Und Tag und Nacht haben die Motoren der Flugzeuge gedröhnt. Es war die größte Luftversorgungs-Aktion der Geschichte, die am 26. Juni 1948 begann. Und es war eine der spektakulärsten Aktionen des Kalten Krieges, der zwischen den ehemaligen Verbündeten gegen Hitler-Deutschland begonnen hatte. Noch wenige Jahre zuvor hatten Tag und Nacht die Flugzeuge der Amerikaner und Briten die damalige Reichshauptstadt in Schutt und Asche gelegt, nun waren sie die einzige Lebensader der 2,2 Millionen West-Berliner zum Rest der freien Welt.
Denn bei den Verhandlungen der Alliierten über die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen hatten die Westmächte eine wichtige Regelung versäumt: Ungehinderte Zugangswege zu Lande und Wasser nach Berlin, das von der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) umgeben war, wurden nicht vertraglich festgelegt. Als die Westmächte in ihren drei Sektoren Berlins die D-Mark einführten, um zu verhindern, dass die Mark der SBZ und späteren DDR in ganz Berlin zum Zahlungsmittel wurde, kam es zum Eklat: Die sowjetische Militärverwaltung unterbrach am Morgen des 24. Juni 1948 den gesamten Straßen- und Schienenverkehr zwischen Berlin und den Westzonen, aus denen später die Bundesrepublik hervorging. Später wurden die Binnenschifffahrtswege geschlossen, so dass auch auf diesem Weg keine Lebensmittel- und Kohlelieferungen in die Westsektoren Berlins mehr möglich waren. Die West-Berliner sollten buchstäblich ausgehungert und die Westmächte zum Abzug ihrer Truppen aus der Stadt veranlasst werden.
Als Reaktion auf diese Machtprobe erteilte der US-Militärgouverneur für Deutschland, General Lucius D. Clay, den Befehl zur Luftbrücke. Anfangs war sie nur für maximal 45 Tage geplant, doch die logistische Meisterleistung bekam immer größere Ausmaße.
Der Minimalbedarf zur Versorgung von West-Berlin lag bei bis zu 5.000 Tonnen pro Tag. So musste auf den Flughäfen Tempelhof und Gatow jeweils eine zweite Landebahn angelegt werden. Außerdem errichteten rund 19.000 Berliner unter Anleitung amerikanischer und französischer Techniker innerhalb von 85 Tagen einen neuen Flughafen in Tegel. Damit wurden zusätzliche Landemöglichkeiten für die Flugzeuge geschaffen, die von elf Flugplätzen in Westdeutschland starteten. Französische Maschinen waren an der Aktion nicht beteiligt, sie waren durch den Krieg in Indochina gebunden. Ständig befanden sich 300 Flugzeuge im Einsatz. Alle 90 Sekunden startete und landete einer der „Rosinenbomber“, so nannte der Berliner Volksmund die lauten Propellermaschinen. Insgesamt waren es während der Zeit der Blockade 277.246 Flüge, bei denen über zwei Millionen Tonnen Nahrungsmittel, Kohle und Maschinen nach Berlin gebracht wurden. Darunter waren auch Teile eines Kraftwerks, um die Energieversorgung der Stadt zu gewährleisten. Auf dem Rückweg brachten die Flugzeuge in der Stadt produzierte Industriegüter in den Westen.
Die Transportkosten der Aktion wurden von den Westmächten getragen. Für Verladung und Umschlag der Güter sowie Ausbau und Unterhalt der Flugplätze kam der Magistrat der Stadt auf. In den drei Westzonen Deutschlands wurde eine Sondersteuer „Notopfer Berlin“ erhoben, ein Zuschlag von zwei Pfennig auf alle innerdeutschen Postsachen. Zudem wurde rund ein Prozent aller Lohn- und Gehaltszahlungen einbehalten - eine Art Vorform des späteren Solidaritätszuschlags.
Diplomatische Lösungsversuche der Krise blieben lange ohne Ergebnis. Die Westmächte begannen am 26. Juli 1948 eine Gegenblockade und sperrten den Güterverkehr aus dem Westen in die SBZ. Von September 1948 bis Februar 1949 wurde sie auf den Handel mit den osteuropäischen Ländern ausgedehnt. Am 4. Mai 1949 lenkte die Sowjet-Regierung ein, eine Woche später wurden Blockade und Gegenblockade beendet.
Die Teilung Berlins war indes nicht aufzuhalten. Im Herbst 1948 wurde die Verwaltung der Stadt geteilt. Bis zur Wiedervereinigung beider Teile Berlin sollte es noch mehr als 40 Jahre dauern.
Historiker appellieren: Krisen anders denken - Fallgeschichten aus drei Jahrtausenden
Was geschieht, wenn sich Gesellschaften bedroht fühlen? Wenn die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, verändern sich Machtkonstellationen und Normen. Ein Buch untersucht Fallgeschichten aus drei Jahrtausenden.
Von Christoph Arens (KNA)
Finanzkrise, Flüchtlingsströme, Hochwasser und Dürren. Corona-Pandemie, bedrohte US-Demokratie, Islamistischer Terrorismus und die Rückkehr des Krieges in Europa: Das 21. Jahrhundert erscheint bisweilen als Abfolge immer neuer Krisen. Gewissheiten und Fortschrittshoffnungen sind plötzlich fraglich geworden. Das Virus setzte über Jahre hinweg Normen und Alltagsroutinen außer Kraft. „Die Welt ist aus den Fugen geraten“, bilanzierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Doch was geschieht, wenn soziale Ordnungen plötzlich nicht mehr zu funktionieren scheinen?
Seit 2011 untersuchen Wissenschaftler der Universität Tübingen im Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“, wie Menschen und Gesellschaften handeln, die unter Druck geraten sind. Jetzt haben die Tübinger Historiker Ewald Frie und Mischa Meier einen spannenden Sammelband mit Fallgeschichten aus 3.000 Jahren vorgelegt. Den Begriff „Krise“ lehnen die Autorinnen und Autoren als zu unscharf ab. „Lasst uns über Bedrohungen reden“, schreiben Frie und Meier zu Beginn. Bedrohungen könnten Gesellschaften verändern. Aus ihnen erwüchsen ungeahnte Chancen und Risiken. Ein Blick auf bedrohte Ordnungen in der Vergangenheit könne helfen, Neues über die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und uns selbst zu lernen.
Bedrohungen verleihen Macht: Wer die Dynamik der Krise beherrscht, kann selbst weit entfernt scheinende Ziele erreichen: Solidarität herstellen, neue Gesetze durchsetzen - oder Grundrechte außer Kraft setzen, Bevölkerungsgruppen ausgrenzen und Gewalt rechtfertigen. Wir sind in den Geschichten vielen Bedrohungsunternehmern und Bedrohungsprofiteuren begegnet: von den kleinen Geschäftemachern der justinianischen Pest bis zu den Rechtsradikalen nach der Kölner Silvesternacht, heißt es.
Die Versuchsanordnung des Buches ist klar: Das Corona-Virus zum Beispiel traf auf ganz unterschiedliche Gesellschaften, die auch sehr verschieden reagierten. Entscheidungsprozeduren waren in China anders als in den USA oder Deutschland. Im Erzgebirge gab es ein anderes Bedrohungsgefühl als in Holstein. Republikanische US-Gouverneure trafen andere Entscheidungen als demokratische Gouverneure. Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler: Jede soziale Gruppe, jede Gesellschaft verfügt über eigene Mechanismen, Ordnung herzustellen.
Das bedeutet aber auch, dass jede Gesellschaft in spezifischer Weise verwundbar ist und ein anderes Verständnis davon hat, was sie bedrohen kann. Eine antike Gesellschaft, in der der Tod allgegenwärtig war, ging gelassener mit einer Seuche um als Deutschland mit der unerwarteten Corona-Pandemie. Aus solch unterschiedlichen Verhaltensweisen versuchen die Wissenschaftler, Muster zu destillieren, die sich durch die Geschichte ziehen. Wir gewinnen dadurch keine sicheren Prognosen für die Zukunft, immerhin aber ein vertieftes Verständnis für menschliches Handeln in Extremsituationen, heißt es im Buch.
So hat beispielsweise Religion sehr unterschiedliche Funktionen - sie kann Gesellschaften unter Stress einen oder auch spalten: Als im Jahr 626 Konstantinopel von den Persern belagert wurde und Kaiser und Heer weit weg waren, ließ die Kirche so viele Messen lesen und Prozessionen durch die Stadt führen, dass die Bürger fest an den Beistand Gottes glaubten und die Feinde in die Flucht schlugen. Doch zur Zeit der Reformation trugen religiöse Praktiken dazu bei, Bedrohungsgefühle zu eskalieren. Beispielsweise Pamphilus Gengenbach mit seiner Satire „Jämmerliche Klage über die Totenfresser“, die Papst und katholischen Klerus scharf beschuldigten, sich an Totenmessen und Gedenkstiftungen zu bereichern und die Lebenden verarmen zu lassen.
Für die Autoren ist klar: Auch wenn Bedrohungen eine überwältigende Dynamik entfalten, sind sie keine schicksalhaften Naturgewalten. Es lohne sich, Szenarien kritisch zu prüfen und zu fragen, wer sie formuliere und wer davon profitiere. So zeige sich im Brexit-geplagten Großbritannien, dass ein Bedrohungsalarm erst an Einfluss gewinne, wenn alle Themen auf diese eine Bedrohung verengt würden und wenn sich Menschen kollektiv von ihren Bedrohungsängsten leiten ließen.