„Europäer setzen heute mehr auf militärische Stärke als auf Diplomatie“

Gastbeitrag von Matthias Platzeck

Das Gedenken an die düsteren Kapitel der eigenen Geschichte ist den Deutschen auf den Weg gegeben. Wie kaum eine andere Nation haben wir die Pflicht, zu erinnern. Besonders zu den historischen Jahrestagen rufen wir uns die Vergangenheit wieder ins Gedächtnis – auch in diesem Jahr, in dem sich im Mai das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal jährt.

Heute ist der Krieg nur noch wenigen aus der eigenen Erinnerung gegenwärtig. Die meisten von uns haben ihn – wie auch ich – nicht mehr erleben müssen. Die Älteren werden immer weniger, die Kriegsgeneration stirbt langsam aus. Für unsere Gesellschaft wird damit die Aufgabe, die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, immer wichtiger, aber auch immer schwieriger. „Die Jungen“, hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner wegweisenden Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 08. Mai 1985 gesagt, „sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“
Das große Glück, dass ich mein ganzes bisheriges Leben in Frieden leben durfte, weiß ich zu schätzen. Und ich mache mir immer wieder bewusst, dass Frieden auch auf unserem Kontinent alles andere als selbstverständlich ist.
Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten gesehen, dass sich die an das Ende des Kalten Krieges geknüpften Hoffnungen auf ein neues Zeitalter des Friedens in Europa nicht erfüllt haben. Krieg ist wieder möglich geworden – schon in den 90er Jahren in Jugoslawien und auch heute im Osten der Ukraine. 30 Jahre nach der Überwindung der bipolaren Weltordnung sind die Gräben zwischen Ost und West auf unserem Kontinent wieder aufgeworfen. Wir erleben eine neue Konfrontation mit Russland.

Nie wieder Krieg w© P. Gregory/Shutterstock

„Mir macht es große Sorge, dass es in einer Zeit der schweren Spannungen in Europa an einer ernsthaften politischen Initiative für Verständigung und Ausgleich mit Russland fehlt“

Europäer und auch Deutsche setzen heute mehr auf militärische Stärke als auf Diplomatie. Die Bilanz der außenpolitischen Bemühungen der letzten Jahre muss ernüchtern, wenn heute Fachleute wie der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Harald Kujat, warnen, dass „wir ähnlich wie 1914 wie Schlafwandler in einen militärischen Konflikt taumeln könnten“.
Die wichtigste Lehre aus unserer Vergangenheit lautet: Nie wieder Krieg in Europa! Haben wir das aus den Augen verloren?
Deutschland trägt besondere Verantwortung für ein friedliches Haus Europa. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat uns gemahnt: „Wir dürfen nicht Russland und seine Menschen zum Feind erklären. Dagegen steht unsere Geschichte und dafür steht zu viel auf dem Spiel.“ Hierzu gehört, die Erinnerung wachzuhalten – auch an die Opfer und das Leid derer, die Deutschland und Europa von Nationalsozialismus und Faschismus befreit haben. Die Hauptbürde bei der Niederschlagung Hitler-Deutschlands hat die Rote Armee getragen – Russen, Ukrainer und Weißrussen. Sie haben uns Deutschen Versöhnung und Freundschaft angeboten. Das ist ein großes Geschenk der Völker, die den verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion mit einer die Vorstellungskraft übersteigenden Zahl von 27 Millionen Kriegstoten bezahlt haben – über die Hälfte von ihnen Zivilisten.

Historische Jahrestage besitzen große symbolische Bedeutung – gerade in Russland hat die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für die meisten Menschen bis heute eine ausgesprochen emotionale Dimension. Für die bevorstehenden Gedenktage ist zu wünschen, dass wir Deutsche uns unsere geschichtliche Verantwortung ins Bewusstsein rufen. Es wäre gut, wenn wir ungeachtet der heutigen politischen Dissonanzen das Ende des Zweiten Weltkriegs mehr als bisher gemeinsam mit Russland begingen, um mit einem aufrichtigen Erinnern ein Zeichen für eine friedliche Zukunft in Europa zu setzen.

 

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